Zwischen Lovecraft und Cyberpunk

Arthur Gordon Wolf im Genretalk

Kategorie: Literatur
Tags: Interview Arthur Gordon Wolf Cyberpunk Genretalk Science Fiction UMC
14.02.2021 - 19:38 von Andreas Giesbert (Text)

Kaum ein Genre ist wohl gleichzeitig so zeitgemäß und veraltet wie das Cyberpunk-Genre. Verchromte Strassen und Neonreklamen vermischen sich mit einer Vorstellung von Cyberspace und Technologie, die den tiefen 80ern entsprungen ist. Durch Blockbuster wie Blade Runner 2049 oder das heiß ersehnte und kontrovers diskutierte Cyberpunk 2077 erfreut sich das Genre auch 2021 noch großer Begeisterung. Der deutschsprachige Cyberpunk-Autor Arthur Gordon Wolf diskutiert im Interview, was Cyberpunk für ihn zu Cyberpunk macht und wodurch sich seine eigene Vision von anderen abhebt.

Andreas Giesbert (Zauberwelten-Online): Lieber Arthur – sofern das überhaupt dein richtiger Name ist –, Du bist einer der wenigen deutschsprachigen Autoren, die Cyberpunkgeschichten erzählen. Stell dich uns doch zuerst einmal vor und erzähl, wie du zur Phantastik gekommen bist.

Arthur Gordon Wolf: Erst einmal vielen Dank für die Einladung zu dieser kleinen Plauderei. Tja, wer bin ich? Ein Autor, der es nicht so genau nimmt mit Genres und ihren vermeintlichen Grenzen. Das verbindende Element all meiner Erzählungen, Novellen und Romane dürfte wohl der Aspekt der "Doppelbödigkeit" sein. Nichts ist so, wie es zu sein scheint. Ich möchte meine Leser*innen dazu bringen, einen Blick hinter die Kulissen zu wagen, nicht alles als gegeben zu akzeptieren. Ganz gleich, ob es sich dabei um psychologische, soziale, ökologische oder phantastische Sachverhalte dreht. Dabei vermeide ich aber den pädagogischen Zeigefinger. Meine Leser*innen sollen selbst die Verbindung zwischen den meist überspitzten ironischen, teilweise auch sarkastischen Szenarien und der so genannten "Wirklichkeit" herstellen. Was nun meinen Namen betrifft, so steht "Arthur Gordon Wolf" mittlerweise sogar in meinem Pass. Freunde von mir wissen allerdings, dass ich ein Namensvetter von dir bin. :-)
Zur Phantastik bin ich ganz eindeutig durch Edgar Allan Poe gekommen. Erst durch Poe (und danach Machen, Blackwood und Lovecraft) eröffnete sich für mich eine ganz neue Spielart der Literatur. Einige Jahre später kam natürlich Stephen King und dann das "typische Gefolge": Peter Straub, Clive Barker, Ramsey Campbell, James Herbert, Joe Lansdale, David Morrell, Richard Laymon, Bentley Litte, Jeff Strand ...

Andreas (ZW): Das sind ja eine ganze Reihe an Namen und dann noch welche, die ich nicht direkt mit Cyberpunk verbunden hätte. Wie kamst du denn von Poe und der Weird Fiction in die nahe Zukunft?

Arthur: Wie du siehst, gilt mein Hauptaugenmerk als Leser aber auch als Autor dem "Horror", der "unheimlichen Phantastik". Reine SF hat mich nie begeistern können. So verehre ich vor allem Autor*innen wie Stanislav Lem, Robert Bloch oder Ray Bradbury, die das Element des Unheimlichen in futuristische Szenarien einfügen. Mir war von Anfang an klar, dass meine SF-Stories auch diesen unheimlichen Touch erhalten sollten. Irgendwann in den 80er Jahren schrieb ich dann "Liebe mich!", eine recht düstere SF-Story mit Replikanten. Es war meine erste Erzählung aus diesem Genre. Woher die Idee kam, weiß ich nicht mehr. Sie war einfach da. Damals hatte ich noch keine Vorstellung davon, was alles hinter der UMC-Szenerie schlummerte. Das entwickelte sich erst von Erzählung zu Erzählung. Das zusätzlich phantastisch-lovecraftsche Element der "Thannag-Shi"entstand erst mit der Novelle "Die Dunwich-Pforte". Für die Lovecraft-Anthologie Dunwich - Ein Reiseführer wollte ich nämlich zu gerne eine UMC-Erzählung beisteuern. Seit dieser Zeit bastle ich weiter an meinem ganz besonderen Mythos der Großen Alten.

Andreas (ZW): Werde ich deinen Werken denn überhaupt gerecht, wenn ich das UMC-Universum als Cyberpunk tituliere?

Arthur: Was meine UMC-Texte betrifft, habe ich mit dieser Bezeichnung oder Klassifizierung überhaupt keine Probleme. Allerdings bin ich eben nicht hingegangen und habe bewusst "Cyberpunk" verfasst. Erst als meine Sammlung mit UMC-Erzählungen umfangreicher wurde, erkannte ich, zu welchem Untergenre der SF sie tatsächlich gehörten. Abgesehen vom Entwurf einer zukünftigen Welt/Gesellschaft bedeutet "Cyberpunk" für mich, dass ich mir diese Zukunft eben alles andere als rosig ausmale. Cyberpunk ist also per se eine Dystopie, eine düstere Prophezeiung. Wichtig für mich ist dabei allerdings der Gegenwartsbezug. Ich beobachte Entwicklungen im sozialen (Soziale Netzwerke, Internet), wirtschaftlich-politischen (Globalisierung, Macht der Mega-Konzerne, Werbung) und wissenschaftlichen Bereich (KI, Roboter) und spinne meine Gedanken von dort ausgehend einfach weiter. Natürlich gebe ich mich nicht der Illusion hin oder beabsichtige gar, durch meine düsteren Stories Umdenkungsprozesse auszulösen. Nein, ich bin eher eine moderne Kassandra, die allerdings nicht nur warnen, sondern vor allem unterhalten will. Das bringt mich zu zwei weiteren Elementen meiner persönlichen Form von Cyberpunk: ohne Action und Humor (meist selbstironisch-böse) würde die Story in ihrer Düsternis versinken.

Andreas (ZW): Filmisch fällt mir bei Cyberpunk sofort Blade Runner, eine Adaption von Dicks Träumen Androiden von Elektrischen Schafen? ein. Als prägnanteste Romanreihe fällt mir dann William Gibsons Neuromancer ein. Was zeichnet die beiden Werke für dich aus?

Arthur: Da nennst du sicher die einflussreichsten und wichtigsten Werke im Bereich Literatur und Film. Ja, hier bekommt der Leser bzw. Zuschauer einen guten Überblick über das, was das Cyberpunk-Feeling ausmacht. Dick wie Gibson erzählen nicht von einem chromglänzenden Paradies, sondern von problematischen Entwicklungen im Bereich KI und virtuellen Lebensformen. Ich würde zusätzlich noch die Werke von Jeffrey Thomas nennen, da er auch phantastische Kultelemente in seine Stories einbindet. Da kann ich vor allem seine Punktown-Bücher empfehlen. Leider sind viele Werke in deutscher Übersetzung vergriffen, weswegen man auf die Originale zurückgreifen müsste.

Illustration von Lupus für Blu Ize

Andreas (ZW): Das Cyber in Cyberpunk ist ja fast selbsterklärend. Der Punk wird aber oft einfach mitgeschleppt oder an die unterschiedlichsten Genres angehängt. So gibt es ja etwa Dieselpunk, Steampunk, Hopepunk oder Clockpunk, um nur ein paar zu nennen. Was macht denn eine Zukunftsvision zur Cyberpunk-Vision oder Story?

Arthur: Ich kann nur von mir persönlich ausgehen. Das "Punkige" besteht darin, dass man vor allem wissenschaftliche Entwicklungen/Erfindungen etc. nicht minutiös und staubtrocken herbetet, theoretisch aufarbeitet und philosophisch unterfüttert, sondern oft einfach als gegeben nimmt und sie als Spielbälle zum Jonglieren verwendet. Autor*innen kommen rotzfrech daher, stört sich nicht an den Gepflogenheiten der klassischen SF und veranstalten mit ihren Protagonisten eine wild-fröhliche Schlammschlacht (wortwörtlich wie metaphorisch). Cyberpunk ist meist auch Rebellion, Auflehnung gegen herrschende Zustände. Freigeist. Eine zukünftige Version der APO. Sie kommt nicht im Brioni-Anzug daher, sondern schmutzig, leger, mit langen Haaren und Zwölftagebart.

Andreas (ZW): Im Angesicht von Google, Amazon und Co. wirken die Ängste vor Großkonzernen, die die Welt unter sich aufteilen, sehr zeitgemäß. Auch Implantate, KI und Bots sind mittlerweile ganz selbstverständlicher Teil unseres algorithmisierten Alltags. Wie gut ist Cyberpunk denn für dich gealtert?

Arthur: Ich finde, recht gut, auch wenn sich manche Dinge nicht 1:1 so entwickelt haben, wie es die Autor*innen Anfang der 80er Jahre prognostizierten. Digitalisierung, Globalisierung und Weiterentwicklungen im Bereich der KI geben schon deutlich einen Kurs vor, der alles andere als unproblematisch ist. Von menschenähnlichen Replikanten sind wir allerdings noch ein gutes Stück entfernt. Aber die Welt verändert sich nicht linear; es gibt tausende von Zweigen, von denen einer plötzlich zu einem gewaltigen Stamm heranwachsen kann. Niemand hätte vor 50 Jahren das Internet vorausahnen können. Wer weiß also, was in 100 Jahren geschehen wird. In diesem Sinne ist Cyberpunk meiner Ansicht nach sehr gut gealtert. Einige Entwicklungen, die ich in meinen Erzählungen erwähne – wie z. B. VR-Brille und entsprechende VR-Spiele – ja sogar der "Steady-Ground" – sind mittlerweile schon Realität.

Andreas (ZW): Du selber bist Autor der UMC-Bände, die zur Zeit bei KOVD und BLITZ verlegt werden. Was sind denn die Grundannahmen deiner Welt, die UMC vom klassischen Cyberpunk abheben?

Arthur: Klassischer Cyberpunk ist ja schon fast ein Widerspruch in sich, verwehrt sich das Genre doch einer derartigen Einordnung. Das Besondere meiner UMC-Stories dürfte wohl das phantastische Element namens "Thannag-Shi" sein. Dieses alte Wesen, das nicht zufällig Ähnlichkeiten mit den Großen Alten von H. P. Lovecraft aufweist, wurde durch Cyber-Aktivitäten erweckt und versucht nun mittels KI und VR die Herrschaft über die Menschheit wieder zu erlangen. Bislang habe ich "Thannag-Shi" noch im Geheimen wandeln lassen, doch irgendwann wird sie sich der breiten Öffentlichkeit zeigen. Tja, was dann (möglicherweise) geschieht, kann man schon in den Cthulhu-Geschichten von Lovecraft nachlesen. ;-)

Andreas (ZW): Da kommt also dein weirdes Erbe ganz durch. Wie gehst du denn mit den Themen um? Ist der Mythos für dich eher ein Stilmittel oder versuchst du, den kosmischen Schrecken einfließen zu lassen? Was sind überhaupt die treibenden Fragen, die du verhandelst?

Arthur: Ich gehe nicht epigonenhaft mit dem Cthulhu-Mythos um, mich fasziniert allerdings die Vorstellung einer uralten (außerirdischen) Lebensform, die sich mittels Technologie in einer nahen Zukunft erneut manifestiert. Daher kopiere ich auch keine lovecraftschen Gottwesen oder erzähle vom Necronomicon und den zahlreichen anderen Schriften, die in fast jeder Erzählung Lovecrafts auftauchen. Ich möchte allerdings jene Atmosphäre der Bedrohung heraufbeschwören, das Unheimliche, Mächtige einer für uns Menschen bizarr erscheinenden Kreatur. En passant versuche ich dabei immer mal wieder, ironische (oder sarkastische) Seitenhiebe auf sich aktuell schon abzeichnende gesellschaftliche Entwicklungen zu verteilen. So verlieren sich Menschen sprichwörtlich in virtuellen Welten, vergessen die Realität und tatsächliche Probleme, werden süchtig nach Software aber auch chemischen Drogen, vereinsamen, suchen Liebe und Sex bei Replikanten. Dies sind einige wichtige Aspekte, die mich bei meinen UMC-Erzählungen umtreiben. Hinzu kommt der Bereich der Verschwörung, der Intrige. Während die Mega-Konzerne den Menschen eine heile Welt vorgaukeln, die so nicht existiert, werden sie selbst von "Weißen Männern" unterwandert, die im Namen einer höheren Macht KI-Systeme sabotieren, um so die Welt ins Chaos zu stürzen.

Andreas (ZW): Wie sollte ich mit der Reihe beginnen und was dürfen wir noch von dir erwarten? Auf Facebook durfte man ja erfahren, dass du 2021 für dich zum UMC-Jahr erklärt hast.

Arthur: Auf meiner Homepage habe ich ja eine grobe Chronologie der bislang veröffentlichten UMC-Erzählungen verfasst. Hier lässt sich eine gewisse Entwicklung der Ereignisse erkennen. Irgendwann – so hoffe ich – werden die Einzelerzählungen auch in einer Sammlung erscheinen. Die jeweiligen Stories und Novellen lassen sich aber auch solo lesen, ohne dass Leser*innen das große Ganze aus den Augen verlieren. Allerdings gibt es schon ein paar "Insider", die sich erst bei chronologischer Herangehensweise ergeben: so taucht der Ermittler aus meiner Novelle Die Dunwich-Pforte nun auch in Blu Ize auf.
Nachdem 2020 ja bereits UMC-mäßig sehr gut anlief (die zweibändige Ausgabe meiner Madenjäger – Mr. Munchkin und Red Meadows erschien beim BLITZ-Verlag, und bei KOVD wurden meine Weissen Männer neu veröffentlicht und die UMC-Novelle Blu Ize publiziert), planen wir bei KOVD weitere UMC-Schmankerl für das neue Jahr. Genaueres kann ich leider noch nicht verraten, nur: It's gonna be BIG! ;-)))

Andreas (ZW): Und da es keinen Cyberpunk ohne Hype gibt. Was hältst du von Cyberpunk 2077 aus Autorensicht? Erwartest du dir dadurch eine Cyberpunkrenaissance?

Arthur: Hehe. Ich spiele selbst keine Spiele, ich schreibe nur darüber. Was 2077 betrifft, so hatte ich mir einen gewissen Kick erhofft. Kumpels, die das Spiel auf ihrem Rechner laufen haben, berichteten mir bereits, wie ähnlich die Atmosphäre zu meinen UMC-Stories sei. Bis auf die Lovecraft-Monster. Tja, als dann aber die Mega-Performance-Probleme auftraten und Sony das Spiel sogar aus seinem Store nahm, ging der Hype wohl eher nach hinten los. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Lage in 2021 entwickelt. Nur Gamer*innen sind leider nicht unbedingt auch Cyberpunk-Leser*innen. Da mache ich mir keine Illusionen.

Illustration von Thomas Hofmann für Die Weissen Männer

Andreas (ZW): Vielen Dank für deine Einschätzungen und den schönen Talk. Ich wünsche dir ein erfolgreiches und vielleicht nicht ganz so dystopisches 2021.

Arthur: Ich habe zu danken. Und auch dir ein hoffentlich erfolgreiches, glückliches 2021.War schön, mit dir zu plaudern.


 
Andreas Giesbert
Über den Autor (Text)

Andreas Giesbert

Andreas begeistert sich für Rollenspiele, Spielbücher und narrative Brettspiele. In letzter Zeit darf es auch mal ein Ausflug in die düstere Phantastik sein. Sein Profilbild verdankt er Erik R. Andara.

 

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